Zugunglück
7. August 1977
„Ein Geisterzug, der aus 21 mit Schottersteinen beladenen Waggons bestand, hatte sich am Sonntagabend gegen 21.15 Uhr an einer Gleisbaustelle in Messel beim Rangieren vom übrigen Zug gelöst und war unbeleuchtet über neun Bahnübergänge gerast und schließlich um 21.50 Uhr in Griesheim am Ende des Schienenstranges in der Pfützenstraße zum Stehen gekommen. Augenzeugen nennen eine Geschwindigkeit von 100 km/h mit der die 21 Waggons, jeweils 30 bis 40 Tonnen schwer, den Prellbock am Ende des Gleises hinwegfegten, einen 80 Zentimeter tiefen Graben schürfend die Pfützenstraße querten und durch das ehemalige Gasmeisterhaus auf dem Gelände der Firma Fahrzeugbau Nothnagel endlich gebremst wurden. Die ungeheure kinetische Energie, die beim Aufprall frei wurde, suchte sich einen Weg nach oben, so daß sich Eisenbahnwaggons spielend leicht wie Streichholzschachteln auftürmten und in der Nacht zu einem gespenstigen Gebilde aus gebogenem Stahl erstarrten.“ Das berichtete der Griesheimer Anzeiger in der Mittwochsausgabe vom 10. August 1977.
Wie durch ein Wunder kamen keine Personen zu schaden. Zwei alleinstehende Frauen waren im Haus, als der Geisterzug mit voller Wucht aufprallte und es teilweise zum Einsturz brachte. Doch die 65-Jährige Frau aus dem Erdgeschoss und die 72-jährige Bewohnerin des ersten Obergeschosses befanden sich in der Rückseite des Hauses.
„Als weitgehend sichergestellt war, daß keine Verletzten oder gar Tote zu beklagen waren, stellte sich die Frage nach der Ursache. Während noch am Sonntagabend unzureichende Informationen eingingen, konkretisierte sich am Montagvormittag das Bild, nachdem genauere Aussagen vorlagen. Bundesbahndirektor Dipl.-Ing. Wilh. Hollricher erläuterte den Hergang vom Sonntagabend 21.15 Uhr. Hinter dem Bahnhof Messel waren bei Einbruch der Dunkelheit Gleisarbeiten am Bahnkörper der Strecke Darmstadt-Dieburg aufgenommen worden. Güterwaggons wurden mit Altschotter des Gleisunterbaus beladen. Dabei stand der Lokführer mit dem Rangiermeister am Ende des langen Zuges über Funk in Verbindung. Am vorgesehenen Haltesignal stoppte der Lokführer die Maschine ab; dabei lösten sich 21 Waggons, die versehentlich nicht an die übrigen Wagen angekoppelt waren und rollten zunächst in langsamem Schritttempo davon“, so der Bericht aus dem „Griesemer“. „Der Rangiermeister sprang ab. Der Geisterzug rollte an und beschleunigte durch das Gefälle zunehmend. Er passierte mehrere Bahnübergänge, durchlief den Verschiebebahnhof Kranichstein und raste schließlich mit einer Geschwindigkeit von etwa 80 bis 100 km/h in Richtung des Darmstädter Nordbahnhofs.“
Zur gleichen Zeit ging die Notmeldung beim Darmstädter Fahrdienstleiter ein. Die Entscheidungsträger entschieden sich dazu, den Zug auf das Industriegleis nach Griesheim zu schicken. Das sei notwendig gewesen, um den Zug nicht in Richtung Darmstädter Hauptbahnhof laufen zu lassen, wo auf gleicher Strecke ein Personenzug von Darmstadt nach Wiesbaden erwartet worden ist. Man erhoffte sich, dass der führerlose Zug aus Messel an einer Steigung zum Stehen kommen könnte. Doch diese Hoffnung war vergeblich. Nach 16 Kilometern und dem Passieren mehrerer unbeschrankter Bahnübergänge endete die Geisterfahrt in Griesheim – mit Waggons, die aufeinandergestapelt in die Luft ragten, und einem zerstörten Wohnhaus.
Die Bergungsarbeiten begannen am folgenden Tag. „Schwierigkeiten machte dabei die Bereitstellung schweren Bergungsgerätes“, so der „Griesheimer Anzeiger“. Eine Anfrage an die Bundeswehr um Bergungshilfe wurde abgelehnt. Der zuständige Oberstleutnant erklärte, dass zwar Bergungsfahrzeuge vorhanden seien, die dafür ausgebildeten Soldaten aber im Urlaub wären. „Im Übrigen sei es nicht die erste Aufgabe, Bergungsdienste zu leisten“, so die Antwort des Oberstleutnants laut „Griesemer“. Hilfe kam indes aus der Ernst-Ludwig-Kaserne: Am Nachmittag rückten US-amerikanische Soldaten des 94. Pionier-Bataillons mit einem Autokran an und beseitigten gemeinsam mit Arbeitern der Bundesbahn die Trümmer des Unglücks. Die Räumung der Pfützenstraße dauerte drei Tage. Das getroffene Haus war zu stark beschädigt, es musste abgerissen werden. Die Straßendecke wurde durch den Unfall aufgerissen, „die Kanalentsorgung stark beschädigt und Stromkabel in Mitleidenschaft gezogen“, resümiert der „Griesheimer Anzeiger“. Der Sachschaden wurde ersten Schätzungen zufolge auf 600000 DM beziffert.