St. Stephan

Im Zuge des Zweiten Weltkriegs waren über zwölf Millionen Deutsche aus Osteuropa auf der Flucht oder wurden Opfer von Vertreibungen. Auch die Donauschwaben mussten ihre Heimat verlassen. Sie waren meist im 18. Jahrhundert aus Deutschland ausgewandert und vorwiegend im südungarischen Raum zu Hause. Einen Eindruck der Erlebnisse während der Flucht mag folgender Ausschnitt aus den Erinnerungen einer Betroffenen vermitteln:

„... Wir kamen nicht weit, und über dem Bakonyer Wald wurde unser Treck von zwei Tieffliegern angegriffen und beschossen. Zwei unserer Pferde wurden totgeschossen, Vater wurde verwundet und musste nach Pápa ins Krankenhaus gebracht werden…“

Die flüchtenden Donauschwaben fanden schließlich den Weg nach Deutschland, das ebenfalls schwer von Bomben zerstört war. In den ersten Jahren nach Kriegsende waren sie meist bei Familien auf dem Land einquartiert, doch bald wuchs das Bestreben, sich eine neue Heimat aufzubauen.

Dr. Viktor Gußmann, ein Don­auschwabe, der in Zwingenberg wohnte, machte sich auf die Suche nach geeigneten Plätzen, wo der Aufbau einer eigenen Existenz möglich wäre. Er stieß dabei Anfang 1947 auf den Griesheimer Sand. Die Fläche hatte vormals als Truppenübungsplatz gedient und lag nun brach. Bald waren genügend Landsleute gefunden, die das Wagnis eingehen wollten, auf dem unfruchtbaren Gelände eine Siedlung aufzubauen. Dr. Gußmann traf sich mit mehreren Familien in Fehlheim, von denen sechs zusagen: Anton Baumstark, Johann Berghardt, Josef Kindl, Josef Krieg, Josef Schultz und Adam Schultz. Nach weiteren Briefwechseln sagten fünf Familien aus Weiher, Peter Balling, Hans Fritz, Josef Hoffmann, Martin Kresz und Adam Wittmer, zu. Es folgten die Familien von Josef Beck und Johann Hasenauer aus Balkhausen, Adam Schmidt aus Braunshardt, Andreas Hasenei und Jakob Morschhauser aus Wattenheim sowie Elisabeth Tex aus Hofheim/Ried und Anna Penniger aus Zwingenberg. Zu diesen 18 Familien aus der näheren Umgebung gesellten sich weitere 22 Familien aus Oberhessen, die in Griesheim eine neue Existenz aufbauen wollten.

Zunächst stießen die Siedler allerdings auf Ablehnung gegen ihre Pläne, die Bürgermeister der umliegenden Orte lehnten den Wunsch nach Besiedlung ab. Der Architekturstudent Josef Penninger trug die Bitte dem amerikanischen Kommandanten vor, der dem Vorhaben grünes Licht gab. „Ihr müsst auf dem Truppenübungsplatz eure Siedlung bauen. Denn ohne Truppenübungsplätze gibt es in Deutschland keinen Militarismus mehr“, wird Kommandant Radigan zitiert.1

Dank der Unterstüt­zung durch die „Kirchliche Hilfsstelle“ in Frankfurt, den damaligen Oberbürgermeister von Darmstadt Ludwig Metzger und vieler anderer, kam es am 18. Februar 1948 zu einem Vertrag über die Bereitstellung von 80 Hektar Land für 40 Sied­lerfamilien. Sie beschlossen ihrer Siedlung den Namen „St. Stephan“, nach dem ersten König Ungarns, zu geben.

Vorerst untergebracht in primitiven Hütten und Notunter­künften, bauten die Siedler schon bald in Selbst- und Nachbarschaftshilfe die ersten Siedlungshäuser. Der Grundriss des ursprünglichen Ortsplanes war der Darstellung von „Christus am Kreuz“ nachempfunden. Die Donaustraße bildete dabei den rechten Arm der Figur und die geteilte Draustraße stellt den Leib dar. Der nach Süden zeigende linke Arm konnte allerdings nie realisiert werden, da dieses Gelände weiterhin militärisch genutzt wurde. [BILD KREUZ]

Adam Schultz, ein Gründervater der Siedlung, erinnerte sich wie folgt an diese Anfangszeit:

„...Wir wussten gar nicht an welchem Ende wir anfangen sollten. Nur mit einem Spaten gingen wir unsere acht Morgen Land an, um Weinreben zu pflanzen. Von der nahen Umgebung kamen wir täglich mit Spaten auf dem Rücken, mit dem Zug nach Darmstadt, dann mit der Straßenbahn weiter bis zum Felsenkeller. ...Des Nachts durften wir im Sägewerk Bretter zuschneiden. Um Mitternacht legten wir eine halbe Stunde Pause ein. Da aßen wir unser trockenes Brot. In Gedanken aßen wir aber Schnitzel und tranken ein Glas Wein dazu. ...“

Ein großes Problem, dass die St. Stephaner auf eine harte Probe stellte, waren die täglichen Reisezeiten. Vom Felsenkeller bis zu den Siedlungsplätzen brauchten die Siedler eine Dreiviertelstunde. Die Personen, die weit weg wohnten (überwiegend in Oberhessen), konnten nicht täglich zum Griesheimer Sand reisen. Für diese mussten zunächst Wohnungen geschaffen werden. Prälat Büttner, der Leiter der kirchlichen Hilfsstelle, wurde in Ziegenhain im Schwalm-Eder-Kreis fündig. Dort standen leere Baracken, die die Siedler zerlegen mussten und per Lastwagen und Zug nach Griesheim brachten. Die 18 Familien aus dem Umkreis mussten weiterhin mit Zug und Straßenbahn anreisen, bis auch für sie vier Monate später – im Juni 1948 – weitere Baracken zur Verfügung standen.

Wie bereits in Ungarn üblich, bauten die Siedler in Sankt Stephan vor allem Kartoffeln und Mais an, sie brachten allerdings auch den Weinanbau – zumindest für eine kurze Zeit – wieder nach Griesheim, der hier im Mittelalter schon einmal von Bedeutung war. Dieser Anbau plus die Haltung von Schweinen diente als erste Lebensgrundlage der Donauschwaben auf dem kargen Griesheimer Sand.

1950 konnte der Ringberater der Landwirtschaftskammer Frankfurt/Darmstadt, Friedrich Balbach aus Weiterstadt, die St. Stephaner davon überzeugen, Spargel anzubauen – eine weitreichende Entscheidung! St. Stephan wurde zu einem reinen Spargelanbaugebiet, bis heute spielt das „weiße Gold“ eine große Rolle in der Griesheimer Gesellschaft.

Die Siedlung wuchs in den kommenden Jahren beständig. 1949 und 1950 folgte eine zweite Siedlerwelle. Dabei spielte die gemeinsame Herkunft, insbesondere auch der gemeinsame Glaube, eine wichtige Rolle. So wurde, nachdem anfangs Gottesdienste in einer Notkirche gefeiert wurden, schon 1954 die St.-Stephans-Kirche fertiggestellt.

Doch auch der Blick für soziales und kulturelles Engagement blieb nie auf der Strecke. Die St. Stephaner gründeten 1948 eine Bezugs- und Absatzgenossenschaft, 1949 einen Feuerwehrverein und eine Pfarrjugend, 1951 einen Gesangverein, 1952 eine Volkstanzgruppe, 1953 einen Sportverein, 1956 eine Ortsgruppe des Roten Kreuzes und 1960 einen Carneval-Verein.2

Ab dem 1. Januar 1977, als die Siedlung bereits über 2000 Einwohner zählte, gehörte St. Stephan wieder zu Griesheim. Im Zuge der Gebietsreform ging das Gebiet wieder an Griesheim zurück. Doch durch die immer größer werdende Gemeinde waren die beiden Nachbarn bereits viele Jahre zuvor schon zusammengewachsen. Es folgte 1982 der Bau des Bürgerhauses St. Stephan und 1989 eine Neugestaltung des St.-Stephan-Platzes samt Errichtung des Denkmals für die Vertreibung.

1 Gromes, Gustl: St. Stephan von A bis Z, 1989, S.16.

2 Knapp, Karl: Griesheim. Von der steinzeitlichen Siedlung zur lebendigen Stadt, S. 356.