Samenhandwerk

Der Handel mit Samen in Griesheim und Umgebung geht bereits bis ins Jahr 1500 zurück. Im 15. Jahrhundert bestanden die hessischen Wälder noch aus gelichteten Laubwäldern und ertragsarmen Hütewäldern, in die vor allem Schweine zum Fressen getrieben wurden. Es wurde nur der Wuchs von den Bäumen gefördert, die der Vieh- und Wildmast dienten. Das waren vor allem Eichen und Buchen. Zu dieser Zeit stieg aber der Bedarf an baufähigem Holz stark an. Der Rohstoff wurde immer wichtiger, beispielsweise für den Bau von Schiffen und Gebäuden, aber auch zur Kohlegewinnung. Schon der hessische Landgraf Philipp der Großmütige (1504-1567) bedauerte zu seinen Lebzeiten den Mangel an „Dannen-Bauholtz“ – also Tannen und Kiefern – und organisierte kurzerhand eine neue Forstwirtschaft in seinem Territorium. Aus Nürnberg und Durlach erwarb der Landgraf große Mengen an Kiefernsamen und ließ sie kurzerhand in der Rheinebene aussähen. Ab 1579 war das Gebiet zwischen Griesheim und Darmstadt als geschlossener Kiefernwald nachweisbar: „Die Tann“.

Die Fertigkeit des „Dannäbbelbrechens” (Tannäpfelbrechen) haben die Griesheimer möglicherweise von den badischen „Dannensäern” gelernt. Eine weitere Überlieferung deutet auf Händler-Karawanen aus Italien mit Saatgut aus dem Süden hin. Auf dem Weg nach Norden hätten sie jeweils eine Nacht in Griesheim verbracht und dabei den Griesheimern einiges über Samen und ihre Verwertung vermittelt.

Die Bevölkerung erweiterte durch die Sammelwirtschaft in den Wäldern ihre Nahrungsgrundlage. Es wurden Champignons für die Herrenhöfe, Schachtelhalm für die Kunstschreiner und Heilkräuter für Apotheker gesammelt. Doch zur systematischen Aufforstung der Wälder wurden Samen benötigt. In Griesheim entwickelte sich das Sammeln und Handeln zu einem führenden Wirtschaftszweig.

Die Griesheimer hatten ihre Kenntnisse im Samensammeln und -handeln so schnell entwickelt, dass die kleine Gemeinde schon im 17. Jahrhundert zu den bedeutsamsten Orten in diesem Erwerbszweig gehörte. Um die wirtschaftliche Bedeutung des Samenhandels für das Dorf ermessen zu können, muss man bedenken, dass sich Ende des 17. Jahrhunderts rund ein Viertel der Bevölkerung (100 Personen) selbständig mit der Gewinnung von Wald- und Grassamen beschäftigte. Der Hessische Staatskalender von 1788 gibt gar an, dass damit in guten Jahren eine Summe von 8000 Gulden erzielt wurde. Das entspricht in etwa dem Griesheimer Gemeindehaushalt jener Zeit.

Gesammelt wurden überwiegend Kiefernzapfen – zunächst in den Wäldern der Umgebung. Da aber vor Ort kein unmittelbarer Bedarf an Samen bestand, musste mit den Samen gehandelt werden. So entstanden am Ende des 18. Jahrhunderts in Griesheim drei Firmen, die bald weltweite Reputation erlangten: Die Samenfirmen L.C. Nungesser (1775), Conrad Appel (1789) und Heinrich Keller (1798).

Einige Jahre später verlegten die Firma Keller im Jahr 1815 und die Firma Appel im Jahr 1856 ihre Geschäfte nach Darmstadt. Gründe hierfür seien verkehrstechnischer und wirtschaftlicher Natur gewesen. Dort bauten sie Klenganstalten im großen Stil auf, durch deren Bedarf und Kapazität in Darmstadt und Griesheim um 1860 über 3000 Menschen mit der Samengewinnung beschäftigt waren, jeder dritte Griesheimer war direkt mit dem Samenhandel verbunden. Neben Paris und Edinburgh befand sich hier um 1850 das dritte internationale Zentrum des weltweiten Samenhandels.

Ihren Höhepunkt erreichte die Samenproduktion im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. In der Zeit verkaufte eine große Samenhandlung 100 000 bis 200 000 Kilogramm Samen von Nadelbäumen. Man musste, um den Ertrag von einem Kilogramm Samen zu erhalten, 25 bis 100 Kilogramm Zapfen sammeln. Diese wurden Stück für Stück von den Spitzen der Bäume gepflückt, wenn sie nicht von gefällten Bäumen geerntet werden konnten. Die Samen wurden dann Tag und Nacht in der Klenganstalt aus den Zapfen gelöst und in der Darre getrocknet. Die Zapfenernte war nur nach der Reife von Ende Oktober und bis zum Frühjahr möglich, dann öffnen sich die Zapfen und die Samen fallen zu Boden.

Die Tannen- bzw. Kiefernzapfen wurden von Männern gesammelt, die sich oft zu Genossenschaften zusammenschlossen, um gemeinsam Wälder zu pachten und abzuernten. Sie werden in der Zeitschrift Gartenlaube 1873 wie folgt beschrieben: „Die Griesheimer Tannenzapfenbrecher sind in grobe Leinwand gekleidet. Bei regnerischem Wetter schützt ein ausgetragener Soldatenmantel die Glieder und eine leichte Mütze den Kopf. Mit den an kernhaften Stiefeln oder Gamaschenschuhen befestigten Steigeisen klettern die ‚Tannenvögel‘ an Kühnheit, Gewandtheit und Sicherheit mit Eichhörnchen und Spechten wetteifernd, blitzschnell bis zu den schlankesten Wipfeln der Bäume empor. In einem leinenen über die Schulter geworfenen Sack sammeln sie die Zapfen. Welche sie nicht mit den Händen erreichen können, werden mit einer ein Zoll (2,5 Zentimeter) dicken und 8-10 Fuß (etwa 2,5 Meter) langen Stange, an einem Ende mit einem Haken versehen, herabgeangelt; während des Steigens wird sie im Knopfloch getragen.”

Großer Bedarf an Samen bestand vor allem in den weiten Gebieten Nord- und Ostdeutschlands, Aufträge von 18 000 bis 20 000 Kilogramm Samen waren keine Seltenheit. Die Preise wurden dabei auf einen halben Pfennig auskalkuliert, z.B. 2,845 Mark für ein Kilo Kiefernsamen um das Jahr 1900 (zum Vergleich: 1975 kostete ein Kilo 500 DM). Um den Bedarf decken zu können, musste die Ernte aus ganz Europa organisiert werden.

Dabei wusste man lange Zeit noch nicht, dass die Samen je nach Herkunft unterschiedliche genetische Eigenschaften besitzen und ein Samen beispielsweise aus Südfrankreich in Ostpreußen nicht gedeihen kann. Ganze Waldbestände waren nach 15 bis 25 Jahren zusammengebrochen. Um 1900 erkannte man das Problem und legte Wert auf Sortenreinheit: Das war die Geburtsstunde der Forstgenetik und der Forstpflanzenzüchtung. Nun wurden Sämlinge gesetzt, die in Baumschulen herangezüchtet worden waren. Damit sank der Bedarf an Samen auf weniger als fünf Prozent des vormaligen Bedarfs.