Kerb
„Wem is die Kerb?“ „Unser!“ Die letzten Augustwochen sind in Griesheim Jahr für Jahr fest in „Kerwehand“. Ein Wochenende lang wird gemeinsam gefeiert, getanzt und vor allem die alte Tradition hochgelebt. Für die Griesheimer Kerb gibt es kein geschriebenes verbindliches Regelwerk, einzig Tradition und Brauchtum bestimmen das Geschehen. Sie geben die Sicherheit über Termin und Ablauf und die Erwartung. In vergangenen Zeiten war die Kerb auch immer ein Zeitpunkt des familiären Wiedersehens. Zur Kerb kam die ganze Familie wieder zusammen nach Griesheim.
Die Kirchweih, so die überregionale Bezeichnung, hat ihren Ursprung als Geburtstagsfeier der Dorfkirche und wurde vielerorts bereits ab dem sechsten Jahrhundert gefeiert. Der Tag der Weihe des Hauptaltares galt üblicherweise als Datum. Der Ort Griesheim wird erstmals 1165 erwähnt, als in der Barbarossa-Urkunde von „Kirche und das Dorf Grizheim“ die Rede ist. 1507 erhielt Griesheim eine neue Kirche, wohl im gotischen Stil. Diese wurde 1681 teilweise abgerissen und neu gebaut. Auf diesen Neubau bezieht sich die heutige Zählung der Kerb. Allerdings ist es möglich, dass die Kerb auch in Griesheim noch älter ist. Den ältesten Nachweis für die Griesheimer Kerb hatte Nachforschungen zufolge eine heute verschollene Gerichtsakte aus Darmstadt geliefert, in der es um vier Männer ging, die Ende August 1619 auf dem Rückweg von der Griesheimer Kerb in Streit geraten waren. Dabei sollen sie die Degen gezogen haben, was eine Anzeige zur Folge hatte.
Zu den Feierlichkeiten gehören gutes Essen, ausgiebiges Trinken, Lieder und Tänze, das wusste man schon vor langer Zeit. All das schien aber zur Kerb im Laufe der Jahre überhandgenommen zu haben, denn schon seit dem 13. Jahrhundert erließen offizielle Stellen von Kirche oder Staat Vorschriften, um das gar zu verschwenderische Treiben zu kanalisieren. Allen Verordnungen ist zu entnehmen, dass an Kirchweih überall geschieht „viel übermäßiges Fressen, Sauffens, Spielens, Schlegerey und sonsten viel Buberey“, so 1574 der Landgraf von Hessen. Die Erlasse variieren je nach Region, aber der Tenor ist gleich: Drei Tage Festbetrieb sollten genug sein, sonntags dürfte kein Markt gehalten werden. Falls durchsetzbar, dann sollte Kirchweih mit einem anderen Feiertag zusammengelegt werden. Noch besser war es gewesen, wenn die Kirchweih in den Ortschaften einer Region am gleichen Tag gefeiert wurde, da sonst der Besucherandrang nicht zu bewältigen gewesen sei.
Wichtiger Teil der Kerb sind schon lange Zeit die Kerweborsch, ab 1994 auch die Kerwemädscher und ab 1998 die Kerwesterncher als weibliche Pendants. Die Kerweborsch sind und waren die jungen Männer, die die Kerb gestalten. Das Wort „Bursche“ stand anfangs für „Student“ und wurde im Laufe der Jahre für junge Männer auch außerhalb der Universitäten gebräuchlich. Auch die Alt- oder Ex-Kerweborsch spielen eine wichtige Rolle. Sie stehen den jungen Burschen mit Rat und Tat zur Seite und helfen, wo sie gebraucht werden. Die Griesheimer Kerb fand üblicherweise in den Gasthäusern im alten Ortskern statt, in denen sich dann die jeweiligen Kerweborsch-Gruppierungen gebildet hatten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte eine Vielzahl von Griesheimer Gaststätten „ihre“ Kerweborsch. So gab es beispielsweise die Kerweborsch vom Linkse, die Parrgässer’s Kerweborsch, die Kerweborsch vom Darmstädter Hof, die Kerweborsch vom Rebstock und die Kerweborsch zum Baches.
Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs pausierte die Kerb für einige Jahre.
Der Erste Weltkrieg hatte seine Spuren auch in Griesheim hinterlassen und die Kriegsgefangenen waren noch lange nicht zurückgekehrt. Deshalb sagte die Gemeinde die Kerb für das Jahr 1919 nochmals ab. Ein Jahr später feierte man wieder Kerb, allerdings nur in kleinem Rahmen. „Trotz der Not der Zeit“, wie der „Griesheimer Anzeiger“ berichtete, feierte man mit Schiffsschaukel, Speis und Trank sowie Karussell. Doch der Andrang auswärtiger Gäste sei verhalten gewesen. Die Passkontrollen durch die Besatzungssoldaten auf Höhe des Waldfriedhofs wurden als Ursache festgemacht. In den Folgejahren trotzte die Kerb der schwierigen Nachkriegszeit. Doch die massive Inflation macht 1923 auch vor der Kerb nicht halt. Als für ein Pfund Brot 260 Milliarden Mark bezahlt werden mussten, beschloss der Gemeinderat ein Verbot des feierlichen Treibens. Durch die Einführung der Rentenmark am 15. November 1923 konnte die Inflation gestoppt werden – und die Feierlichkeiten liefen im darauffolgenden Jahr wieder an.
Im Schatten des Zweiten Weltkriegs feierte die Stadt Griesheim dann 1939 ihre vorerst letzte Kerb, viele junge Männer mussten jedoch schon zu dieser Zeit als Soldaten ihre Heimat verlassen. Das Wochenende 1944, an dem normalerweise die Kerb hätte stattfinden sollen, brannte sich in die Griesheimer Geschichte ein. Am 26. August 1944 wurde Griesheim Opfer eines gravierenden Bombenangriffs, der große Teile der Gemeinde traf. Insgesamt trafen die Gemeinde vier Angriffe während des Zweiten Weltkriegs.
Im Jahr 1946 ging Griesheim wieder auf die Kerb, um gemeinsam wieder zu feiern. Trotz Zerstörung und persönlichem Leid nach dem Zweiten Weltkrieg traf man sich im „Felsenkeller“ (Kerwevadder Georg Kurz) und im „Bürgerhof“ (beim Baches, Kerwevadder Jakob Göbel). 1947 feierte man im „Bürgerhof“ und in der Turnhalle der „Nei Schul“, der neuen Schule, die heute Friedrich-Ebert-Schule heißt. Mit dem Wiederaufbau der Gemeinde konnte auch die Kerb wachsen. 1948 feierte man das erste Mal wieder im Zöllerhannes. Ab 1950 folgte ein großes Festzelt auf dem ehemaligen Festplatz, der seit 1964 als Standort der Feuerwehr dient.
In den 1960er Jahren flachte das Kerbtreiben ab. Im Jahr 1963 waren nur noch die alten Kerweborsch vum Zöllerhannes aktiv, um den Brauch aufrecht zu erhalten. Die Kerb drohte in Vergessenheit zu geraten, doch sie stellten kurzerhand einen Baum am Zöllerhannes. Ein Jahr später fanden sich an diesem Ort wieder junge Männer, um die Traditionen weiter zu führen.
Die Wiederanbindung an die Kirche 1981 im 300. Jubiläumsjahr brachte der Kerb neue Impulse. Die Kerb beginnt seitdem freitags mit dem Aufhängen der Kerwekrone und dem Stellen des Baumes an der Lutherkirche im Rahmen des Gottesdienstes. Bis 1980 wurde der Baum samstags gefällt, transportiert, geschmückt und vor dem Lokal aufgestellt. Der Kerwevadder verlas die Kerweredd. Anschließend wurde getanzt und die Kerwebopp geholt.
Am Freitag und Samstag werden weitere Bäume an den beteiligten Wirtshäusern gestellt. Der Kerwebaum ist eine Fichte oder Douglasie, etwa 20 Meter hoch. Privatleute stellten zuweilen, besonders entlang der alten Griesheimer Zugstrecke, kleinere Birkenstämme auf. Die Bäume markierten die Tanzsäle, in denen die Griesheimer ihre Kerb feiern konnten.
Im Festzelt auf dem Kerweplatz wird freitags durch den Bürgermeister mit dem Bieranstich der weltliche Teil des Festes eröffnet. Am Samstagnachmittag wird der Kerwebaum am Zöllerhannes gestellt. Hier hält auch der Kerwevadder seine Kerweredd. Am Sonntag findet der Festgottesdienst in der Lutherkirche mit anschließendem Frühschoppen statt.
Einen Höhepunkt des Festes bildet der Umzug am Sonntag durch die Straßen. Dabei wird an zentraler Stelle nochmals die Kerweredd vorgetragen. Der Zug endet auf dem Festplatz, in alter Zeit die nördliche Oberndorfer Straße und südliche Pfützenstraße, dann am Feuerwehrplatz, später am Hegelsberg. Montags haben manche Geschäfte geschlossen: Es ist Frühschoppen in den Wirtshäusern. Zum Abschluss der Kerb leuchtet ein Feuerwerk am Dienstag in den Abendstunden.
Am Wochenende darauf wird die Nachkerb gefeiert: Der Kerwebaum vum Zöllerhannes wird versteigert, abgeschlagen und zersägt. Montags schließlich wird die Kerwebopp nach einem letzten kleinen Umzug durch die Straßen feierlich verbrannt, mit einer angemessenen Trauerrede. Damit ist die Kerb „begroawe“.
Während die Kerweborsch vum Zöllerhannes und die (Alt-)Kerweborsch vom Tannenhof in der Nachkriegszeit lange die einzigen Verbunde bildeten, schlossen sich nach der Kerb 1998 rund 25 Mitglieder zu den Kerweborsch vum Donauschwabenhof zusammen, die bis heute ein ebenso fester Teil der Kerblandschaft sind.
Glossar:
Kerb - Kirchweih
Kerweborsch - Im Organisieren und Feiern der Kerb aktive junge Männer
Kerwemädscher - Im Organisieren und Feiern der Kerb aktive junge Frauen
Kerwesterncher - Die aktiven jungen Frauen der Kerweborsch vum Donauschwabenhof
Kerwevadder - Kerb-Vater. Leiter der Kerweborsch und Verantwortlicher für die Durchführung der Kerb
Kerweredd - Rede anläßlich der Kerb
Kerwebopp - Kerb-Puppe. Maskottchen der Kerweborsch
Kerweplatz - Festplatz am Hegelsberg